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Montag, 10. Dezember 2012

Im Traumland







Im Vorrübergehen


Seit ich in Shanghai wohne, in diesem hohen und hässlichen Ungetüm, umgeben von einem Gewimmel kleiner Häuschen und Haustierverkäufer, gehe ich kaum noch spazieren. Liegt es daran, dass es kaum schöne Parks gibt, in denen man sich verlaufen kann? Dass es nicht dem Wesen der Stadt entspricht, für eine Weile nichts zu machen, außer langsam zu laufen? Früher, als ich in Hangzhou wohnte, musste ich nur meinen Campus überqueren und schon war ich in in den Bergen, am See oder im Botanischen Garten und ging oft stundenlang spazieren. Danach war mein Kopf wieder frei, um noch mehr chinesische Schriftzeichen aufzunehmen.

Eigentlich hatte ich mir den Tag freigenommen. Doch weil meine Kollegin mich dann doch überredet hatte mir ihr zu einem Vortrag eines Professors der Parteihochschule für die Stadtkader der Behindertenverbände zu gehen, konnte ich erst abends mit dem Zug nach Hangzhou fahren. Als ich ankam, war es schon dunkel und mit mir standen nun die unzähligen Pendler, die sich diese Menschenmengen täglich antun, in der unterirdischen Taxischlange. Ich gab nach einer halben Stunde auf und ging zu Fuß. Bahnhofsgegenden sind nie die schönsten Ecken einer Stadt - das trifft auch auf Hangzhou zu - aber nach wenigen Metern im Freien, konnte ich mich wieder genau erinnern, was ich an dieser Stadt so liebte.

Als ich das erste Mal Hangzhou besuchte, stieg ich völlig verkatert nach einer durchgemachten Nacht aus dem Flugzeug. Es war mild und zum ersten Mal roch ich in China die Luft, die mich umgab. Nach einem guten Monat im bitterkalten Beijing, erschien mir Hangzhou wie eine Erlösung von dieser wirren, Blade-Runner-Stadt. Während in Beijing und in Shanghai die Menschen stumpf und mit starrem Blick nach vorn gerichtet durch die Strassen eilen, gehen hier die Menschen noch spazieren. Während in Beijing und Shanghai die Leute wie Wahnsinnige ins Fitnesstudio rennen, wird in Hangzhou abends am See getanzt, gemeinschaftliche Fitnessübungen gemacht oder - wie ich früher auch - um den See herum gelaufen.

Früher musste ich nur den Berg hinter meinem Campus überqueren und schon war ich am See. Ich schrieb schnell eine Nachricht an meinen guten Freund und schon trafen wir uns zu einem Bier oder einem Tee am See und schauten hinaus aufs Wasser. Darum war ich nun sehr froh, dass er mich an diesem Tag nach Hangzhou einlud, um zu einer Einweihung eines neuen Photostudios zu kommen und schon kurz nach meiner Ankunft spazierten wir wie früher am See entlang. Die Bergsilhouetten verschwammen am Horizont und kleine Pagodenspitzen leuchteten wie kleine Sterne in den Bergwipfeln.

"Kennst du Gu Hongming? Ich lese gerade viel Literatur aus der Zeit des Ende der Qing Dynastie. Gu Hongming war auch nach der Xinhai Revolution ein treuer Anhänger der Monarchie und des Konfuzianimus. Lernt ihr das auch in der Uni?", fragt er mich? "Nein, von Gu Hongming habe ich leider noch nicht gehört", muss ich zugeben. "Ich habe in letzter Zeit viel über diese Periode gelesen, aber gerade in der Uni behandeln wir eher die Refomer, als die Konservativen."
"Ich finde es sehr wichtig, sich mit diesem Zeitabschnitt um die Jahrhundertwende zu beschäftigen", fährt er fort. "Viele Debatten die damals geführt wurden, sind den heutigen sehr ähnlich. Damals schwankte man zwischen Modernisierung oder Traditionalismus. Wie sah die chinesischen Moderne aus, wenn man nicht den westlichen Weg einschlagen wollte und konnte? Mit genau diesen Fragen beschäftigen wir uns heute immer noch. Und übersehen dabei oft, dass schon vor mehr als 100 Jahren schlaue Antworten gefunden worden sind."
 
Wir setzen uns in eine der kleine Pagoden, die den See säumen und schauen den kleinen Ruderbooten hinterher, die langsam über das Wasser wandern. "Ich mag den Vergleich zwischen heute und dem Ende der Ying Dynastie. Vor 100 Jahren kreisten die Debatten eigentlich um genau das gleiche Problem wie heute: Wohin? Tradition und Moderne zu welchem Anteil?", sage ich. "Dass es nicht entweder oder ist, zeigt Hangzhou. Dass es nicht einseitig sein darf, das zeigt Shanghai. Ich sollte Gu Hongming lesen."

Mein Freund zögert kurz. "Eigentlich sind wir in Hangzhou um die Ruhe zu genießen. Heute wollen wir nur spazieren gehen. In Shanghai können wir uns dann wieder mit solchen abtrakten Konstrukten wie der Moderne auseinandersetzen. Dort bleibt uns sowieso nichts anderes übrig."