Seit ich wieder in Neukölln wohne,
gehe ich wieder spazieren. Das hatte ich lange nicht gemacht, dachte ich doch,
um unbekannte Strassen und Ecken in Berlin zu entdecken müsste ich nach
Hohenschönhausen oder Hermsdorf fahren. Stattdessen war ich stundenlang durch
Shanghai gewandert, durch Taibei, Hangzhou...
Ich biege die Richardstrasse ein und
trete in die dörfliche Blase des alten Neuköllns ein. Hier fühle ich mich immer
geborgen, auch wenn ich keine alte Rixdorferin bin und eigentlich auch noch
nicht so lange hier wohnte. Aber der Moment, an dem ich den Einkaufswahnsinn
mit seinen hässlichen Betonklötzen hinter mir lasse und in die leicht
angegrauten Wandschluchten des alten Berlins eintauche, beruhigt mich. Ich
laufe an dem Buchladen vorbei, der nichts außer biographische Romane verkauft,
bleibe vor dem Schaufenster stehen und lerne neue Menschen kennen. Ich nicke
den bekannten zu und stelle mich den neuen vor. Der Buchladenbesitzer sitzt im
hinteren Bereich mit krummen Rücken über seinen Computer gebeugt und spielt
Passiance. Ich nicke auch ihm zu, er schaut nicht auf, wir kennen uns ohnehin
nicht. Ich setze meinen Spaziergang fort. Vorbei an den unzähligen geschlossenen
Fensterläden des Erdgeschoß. Die, die immer dreckiger aussehen, als alle
anderen. Die, die immer, wirklich immer, geschlossen sind. Die, mit den
unbekannten Gesichtern dahinter. Wer sind diese Menschen, die dort in der Dunkelheit hausen?
Ich stehe vor dem Puppenladen. Ich
hatte ihn schon neulich, als ich betrunken aus dem Sameheads gestolpert bin,
entdeckt. Nun hatte er auf und ich ging hinein. Puppenperücken, Arme, Beine,
hohle Köpfe ohne Augen umgeben mich. Als Kind hatte ich auch eine schöne, alte
Puppe besessen. Sie hatte alle zwei Jahre, immer dann wenn auch ich meine Haare
verändert hatte, ebenfalls eine neue Frisur bekommen – und in ihrem Fall hieß
das eine neue Perücke. Deren Haar war zwar etwas rau und glänzte nicht wie bei
einer Barbiepuppe, aber dafür waren sie echt. Dann gingen ich und meine Puppe
Fritzi stolz mit unseren neuen Frisuren auf die Strasse und wir sonnten uns in
unserem neuen Selbstbewusstsein.
Die Dame, die hinter dem Tresen
steht trägt Adidas und ein Baseballkappe und trotzdem passt sie in den Laden.
Umgeben ist sie von Körperteilen und alten Postkarten Berlins vor dem Krieg –
eigentlich ist der ganze Laden im Kaiserreich stehen geblieben – aber sie, nur sie, hatte sich ein paar
neue Accessoires gegönnt. Ich erkundige mich nach den Preisen für neue
Echthaarperücken. Eine rote, mit langen, unten leicht wellenden, Haaren fällt mir sofort ins Auge. Fünfundsiebzig Euro soll sie kosten. „Ich komme wieder
und bringe meine Puppe mit. Ich kann das nicht allein entscheiden.“
Während ich langsam die
Richardstrasse weiter nach unten gehe, frage ich mich, ob ich und H. vor einem
Jahr das Richtige getan hatten. Dann würde ich jetzt nicht ausschließlich mit
den Toten meiner Biographien kommunizieren und mir Gedanken über die Frisur
meiner Puppe aus Kindestagen machen.
Ich werde meiner Puppe meine Haare spenden.
Ich werde meiner Puppe meine Haare spenden.